mirror of
https://github.com/vale981/valentin-in-nz
synced 2025-03-04 16:51:39 -05:00
228 lines
11 KiB
TeX
228 lines
11 KiB
TeX
\chapdate{13.04.2017}
|
|
\chapter{Viel Neues}
|
|
|
|
\begin{figure}[h]
|
|
\centering
|
|
\includegraphics[width=\textwidth]{22/dunedin.JPG}
|
|
\mycap{Blick auf Dunedin}
|
|
\end{figure}
|
|
Welch turbulente Tage. Nach einer großen Panik, die sich bei mir schon
|
|
das ganze Wochenende mit einem Unwohlsein angekündigt hat, sitze ich
|
|
jetzt auf der Rückbank unseres sehr kleinen Campervans und habe ein
|
|
wenig Ruhe, um endlich mal wieder von meinen Abenteuern zu berichten.
|
|
Die erste Nacht ist erstaunlich komfortabel überstanden und ich bin
|
|
wieder entspannt :).
|
|
|
|
Den letzten Monat habe ich noch einmal etwas Neues ausprobiert und mich
|
|
ins kalte Wasser gestürzt. Und wirklich, ich habe mich am ersten Abend
|
|
gefragt, was ich mir eigentlich gedacht habe. Harsch enttäuscht von
|
|
Dunedin und überwältigt von der Aussicht, einen Monat einmal ganz für
|
|
mich allein zu sorgen, sah ich am ersten Abend wirklich kein Licht.
|
|
|
|
Ein paar Tage später war meine ``Reisekrankheit'' aber auch schon wieder
|
|
kuriert. Ich hatte mich in Hogwartz, dem Hostel, in dem ich arbeitete,
|
|
eingelebt und auch mit meiner Programmierarbeit ging es voran. Zu
|
|
meinen Kollegen im Hostel konnte ich zuerst keinen Draht finden und
|
|
besonders Lukas, ein Musiker und Programmierer, gab sich sehr
|
|
verschlossen. Ich fand jedoch recht schnell heraus, dass jeder, außer
|
|
einem Langzeitgast des Hostels, dasselbe Problem hatte und knüpfte
|
|
darauf hin schnell Freundschaften mit zwei Belgierinnen.
|
|
|
|
\begin{figure}[h]
|
|
\centering
|
|
\includegraphics[width=\textwidth]{22/sunset.JPG}
|
|
\mycap{Sonnenuntergang am Sandfly-Beach bei Dunedin}
|
|
\end{figure}
|
|
Im Allgemeinen war ich überrascht, wie gesellig ich mich auf einmal in
|
|
der Flut der neuen Menschen, die jeden Tag über mich hereinbrach,
|
|
verhielt. So unternahm ich regelmäßig Ausflüge und immer fand sich
|
|
genug Gesellschaft, um mein Auto zu füllen. Es gibt diesen ganz
|
|
bestimmten Schlag von jungen Reisenden, die sich immer mit uns (der
|
|
Belegschaft) in der kleinen und meist übersehenen Küche neben der
|
|
Großküche zusammenfanden und mit denen man immer prächtig auskam.
|
|
|
|
In besagter Küche, die ich auf Grund ihrer geringen Popularität immer
|
|
ganz für mich selbst hatte, konnte ich nach Herzenslust Kochen, Braten
|
|
und Backen, ohne mich in Rivalitäten um Töpfe und Herdplatten zu
|
|
verstricken. Auch wenn ich zuvor schon gelegentlich ein paar Nudeln
|
|
eingeweicht und Fertiggerichte nach Anleitung zubereitet hatte, konnte
|
|
ich nicht auf einen großen Erfahrungsschatz zurückblicken. Es sei mir
|
|
das Eigenlob vergeben, aber ich meine, mich sehr gut geschlagen zu
|
|
haben.
|
|
|
|
\begin{figure}[h]
|
|
\centering
|
|
\includegraphics[width=\textwidth]{22/bread.JPG}
|
|
\end{figure}
|
|
Von Bolognese über gebackene Kumara bis hin zur Lasagne hatte ich
|
|
nicht unter Nahrungsmangel zu leiden. Und im Kühlschrank stapelte sich
|
|
das im ersten Einkauf erstandene Toastbrot, denn gleich an meinem
|
|
ersten Tag hatte ich wieder angefangen Brot zu backen. In Wirklichkeit
|
|
ist Brotbacken ziemlich einfach, aber sehr lohnend und schindet
|
|
deswegen nur umso mehr Eindruck. Fleißig teilte ich mein Brot und mein
|
|
Wissen, war aber der Einzige, der bis zum Ende alle halbe Woche Brot
|
|
buk.
|
|
|
|
Welch bemerkenswerte Phänomene durfte ich in unserem kleinen
|
|
(mittelgroßen) Hostel beobachten. Wenn man sieben Uhr aufstand, hatte
|
|
man das ganze Hostel für sich. Um acht konnte man den Schleier der
|
|
Trägheit noch förmlich sehen. Und in meinem sehr dunklen, aber
|
|
gemütlichen Schlafzimmer konnte ich des öfteren selbst um zehn Uhr
|
|
nicht staubsaugen, weil einige besonders bequeme Individuen immer noch
|
|
in ihren Betten ruhten.
|
|
|
|
Reisende sind ein lustiges Volk, besonders die Sorte, die mehrere
|
|
Monate unterwegs ist. Hört man die Geschichten eines solchen
|
|
Weltenbummlers, so kann man sich kaum vorstellen, wie auf Reisen auch
|
|
nur ein Tag ohne neue, atemberaubende und phänomenale Eindrücke
|
|
vergehen kann. In Wirklichkeit sind die meisten Tage solcher Menschen
|
|
von an Lethargie grenzender Trägheit gekennzeichnet. Relativierend
|
|
muss ich aber gestehen, dass dieser Eindruck wahrscheinlich von
|
|
Extremfällen herrührt, die am Ende der Saison nicht mehr mit der alten
|
|
Energie umherziehen. Ich selbst hatte, da man erst um 10 Uhr zur
|
|
Arbeit antrat, alle Mühe, meinen Schlafrhythmus aufrecht zu erhalten.
|
|
\begin{wrapfigure}{r}{0.4\textwidth}
|
|
\centering
|
|
\includegraphics[width=.4\textwidth]{22/cathedral.JPG}
|
|
\mycap{Dunedin Cathedral}
|
|
\end{wrapfigure}
|
|
|
|
Wie dem auch sei. Besonders ein bemerkenswertes Exemplar des Homo
|
|
Instrenuus wurde mir zu einem guten Freund, auch wenn ich ihren Namen
|
|
immer noch nicht kenne. Sie, eine Chinesin, entfloh dem Stress, kam
|
|
für ein Jahr nach Neuseeland und blieb dann irgendwie in Dunedin
|
|
hängen. Auch wenn ihre Ansichten zur ``Partei'' sehr chinesisch
|
|
anmuteten, war sie doch als biertrinkender Fußballfan so ganz und gar
|
|
untypisch.
|
|
|
|
Ich konnte ihr, die sie ihren Lebtag noch kein Saxophon
|
|
gesehen oder gar gehört hatte, mit meinem Saxophonspiel eine große
|
|
Freude machen. Das ging soweit, dass ich eines Abends, nachdem wir in
|
|
einem sehr schönen Café namens ``The Dog with two Tails'' (sehr
|
|
untypisch wollte Sie mir unbedingt einen Drink ausgeben. Ich habe das
|
|
Bier probiert, konnte aber immer noch nichts daran finden.) waren,
|
|
mitten im nächtlichen Stadtzentrum herumjazzte.
|
|
|
|
Nachdem wir eines anderen Abends zum beeindruckend kunstvollen Choral
|
|
Evensong in der wunderbar hellen neogotischen Kathedrale gepilgert
|
|
waren, erstaunte ich Sie mit meiner Ansicht, das Reich Gottes würde
|
|
niemals kommen. Nicht, dass ich der Menschheit besonders zynisch
|
|
gegenüberstehe, aber es ist so, dass sich Religion über das Streben
|
|
zum Besseren definiert. Ohne dieses Streben verlören die Menschen
|
|
recht schnell die Motivation ihr Paradies aufrecht zu
|
|
erhalten. Vielleicht ist es also besser, wenn zumindest für die
|
|
jetzigen Menschen das Reich Gottes unerreichbar bliebe. Wir leben in
|
|
interessanten Zeiten, in denen Religion teilweise an Signifikanz
|
|
verliert und wir Chancen haben, Religion ohne Autorität und Zwang in
|
|
ihren guten Seiten zu entdecken. Die Tage der Chinesin entwickeln sich
|
|
zu einem Rhythmus von besorgniserregender Abnormalität und ich hoffe,
|
|
dass Sie sich selbst etwas Gutes tut und weitergezogen ist, wenn wir
|
|
wieder in Dunedin sind.
|
|
|
|
Auch wenn man sich nach fünf Tagen Toilettenputzen entsprechend
|
|
motiviert fühlt, war die Hostel Arbeit, wenn auch keine angenehme, aber
|
|
doch eine interessante Angelegenheit. Abendliche Jammsessions,
|
|
komfortable Betten, nette Besitzer und eine gemütliche Atmosphäre
|
|
machten mir das Hostel zu einem hervorragenden Heim. Als ich dann auch
|
|
noch ein (sehr klappriges) Fahrrad leihen durfte, mit dem ich zum
|
|
Arbeiten (Programmieren) in die schmucke und sehr ruhige
|
|
Universitätsbibliothek fahren konnte, war mein Glück perfekt.
|
|
|
|
Am ersten Tage mit dem Fahrad habe ich das Fliegen und meinen
|
|
Schutzengel kennengelernt! Wie immer grub ich mir selbst ein paar
|
|
Löcher und grämte mich des öfteren, sodass mir erst, als ich die
|
|
letzten Tage in einem nicht so angenehmen Hostel verbrachte, bewusst
|
|
wurde, wie gut ich es hatte und welche Erfahrung ich gesammelt
|
|
habe. Auch mein Programmierjob brachte mir einen unermesslichen Schatz
|
|
an Erfahrung, der mir jetzt ermöglicht an einer Open-Source
|
|
Planetariumssoftware mitzuwirken.
|
|
|
|
Schon auf der Banks Peninsula habe ich Grundsteine gelegt, fleißig C++
|
|
gebüffelt und mich in QT geübt.
|
|
|
|
\begin{figure}[h]
|
|
\centering
|
|
\includegraphics[width=\textwidth]{22/pigeon.JPG}
|
|
\mycap{Blick auf die Pigeon-Bay auf der Banks-Peninsula}
|
|
\end{figure}
|
|
Sehr schöne drei Wochen waren das. Wenn wir nicht gerade
|
|
\textbf{\textbf{in}} den Wolken lagen (ich wollte schon immer mal
|
|
wissen, wie das ist :P, aber man wird des Nebels schnell überdrüssig.),
|
|
hatten wir eine wunderbare Sonne und ich konnte sogar ein paar Mal vom
|
|
Anleger aus in die kühle und tropisch blaue See hüpfen. Auf unserem
|
|
Hügel sah ich Sonnenuntergänge und genoss so manchen Tee auf der
|
|
Veranda. Noch nie war ich so glücklich über mein Auto, denn ohne ist man
|
|
auf der Halbinsel verloren.
|
|
|
|
James Cook hielt den ehemaligen Vulkan sogar für eine Insel und taufte
|
|
Sie, nach seinem Bortbotaniker Joseph Banks, die ``Banks Island''. Auch
|
|
als ich das Land mit Panoramablick auf einem der dortigen Hügel
|
|
examinierte konnte ich mir nur schwerlich vorstellen, dass ich auf den
|
|
Überresten eines mehrere tausend Meter hohen Vulkans stehe. Bei
|
|
genauerem Hinsehen kann man jedoch erkennen, das diese zerklüfteten
|
|
Hügel, die eine Halbinsel aus tentakelartigen Landzungen bilden und im
|
|
Flachland von Canterbury so fehl am Platz wirken, vulkanischen
|
|
Ursprungs sein müssen.
|
|
|
|
\begin{figure}[h]
|
|
\centering
|
|
\includegraphics[width=\textwidth]{22/landing.JPG}
|
|
\mycap{Der Steg in der Pigeon-Bay}
|
|
\end{figure}
|
|
Des weiteren kam ich in den Genuss der Gesellschaft eines sympathischen
|
|
französischen Game-Developers. Nachdem ich Raphael, so ist sein Name,
|
|
mächtig über die Spielentwicklung ausquetscht hatte, war ich sehr
|
|
erstaunt, wie viel wissenschaftliche Forschung hinter der Computergrafik
|
|
steckt, auch wenn ich so etwas schon geahnt hatte (Verweis auf das
|
|
National Geographic Magazin in Greymouth). Dem schlossen sich viele
|
|
Diskussionen über Politik, Soziales und sogar die Kernfusion an und ich
|
|
verstehe nun, warum er am Sinn seiner Arbeit als Game Developer zweifelt
|
|
und Bienen züchten will.
|
|
|
|
Welchen Dienst tut man an der Gesellschaft, indem man den Tag vor dem
|
|
Computer verbringt, um anderen zu ermöglichen, das Gleiche zu tun und
|
|
die unmittelbaren Probleme zu vergessen. Auch wenn ich glaube, dass
|
|
allein die Freude, die man sich und anderen bringt, gewissermaßen
|
|
ausgleichend wirkt. Die Dosis macht das Gift.
|
|
|
|
Auch sollte man bemerken, dass die Welt auch bei all den Problemen
|
|
nicht unbedingt vor die Hunde gehen muss. Wenn man beispielsweise
|
|
Projekte wie die Wikipedia betrachtet wird klar, dass Menschen nicht
|
|
für Geld sondern aus eigenem Interesse arbeiten können. Ferner ist die
|
|
Qualität dieser Arbeit meist sogar erstaunlich hoch. So etwas wie Open
|
|
Source dürfte intuitiv gesehen eigentlich gar nicht funktionieren, in
|
|
der Realität jedoch entsteht Erstaunliches.
|
|
|
|
Komplexe Systeme, wie unser Gehirn, ein Bienenstock oder eben
|
|
Kollaboration, lassen sich weder reduktionistisch durch das
|
|
Beschreiben der einzelnen Bestandteile, noch durch die holistische
|
|
Betrachtung des Ganzen verstehen. Besonders für uns Menschen, die an
|
|
bewusste Kontrolle und Planung als menschliche Errungenschaft gewöhnt
|
|
sind, ist es schwer zu akzeptieren, dass solche stabilen und
|
|
produktiven Systeme sich zwangsläufig so gefügt (adaptiert) haben,
|
|
dass sie funktionieren. Das hat doch fast etwas Poetisches, wenn man
|
|
die Logik des anthropischen Prinzips vernachlässigt.
|
|
|
|
\begin{figure}[h]
|
|
\centering
|
|
\includegraphics[width=\textwidth]{22/raphael.JPG}
|
|
\mycap{Raphael}
|
|
\end{figure}
|
|
Über dieses und weiteres konnte man sich prima austauschen. So gut
|
|
sogar, dass wir zuletzt nicht mehr zusammen arbeiten durften, weil wir
|
|
nur noch quatschten. So mussten wir uns auf Spaziergänge und
|
|
Wanderungen verlegen :).
|
|
|
|
Viele Ausflüge wurden unternommen: ich wanderte, ich hörte Konzerte und
|
|
ich habe sogar eine Gratis-Tour zu den Albatrossen auf der Otago
|
|
Peninsula gemacht (zur Webcam, für die ich programmiert habe). Ich habe
|
|
viel gelernt. Und ich hatte viel Freude. Ich bitte die so spärliche
|
|
Berichterstattung zu verzeihen, aber es ist so schwer, Schritt zu
|
|
halten.
|
|
|
|
Jetzt geht es eine Runde reisen mit Mama, Noemi und Falko :). Auch wenn
|
|
jeder vom Wetter und der Umstellung etwas angereizt ist, wird es
|
|
bestimmt ein Spaß.
|
|
|
|
Zur Reiseberichterstattung verweise ich fauler Weise einmal an Falkos
|
|
Blog. Gehabt euch gut ;)
|